Quer über den Hudson

Hätte sich der Brückenbauer Gustav Lindenthal damals durchgesetzt, würde jetzt eine Monsterbrücke den Hudson in New York überqueren. Dessen Plan sah nämlich eine 65 m breite Brücke mit Pylonen vor, die jedes andere Bauwerk aus der Zeit überragt hätten, und schuf Platz für zwölf Bahngleise sowie weitere 20 Fahrbahnen für Autos und Strassenbahnen. In heutigen Dollar hätte das Projekt rund 2 Mrd. verschlungen.

Seit Jahrzehnten wollte Amerika damals bereits eine Brücke über den Hudson bauen. Der angesehene Brückenbauer Lindenthal, unter dessen Federführung zahlreiche Projekte realisiert worden waren, betrachtete die Brücke als seine Bestimmung. Aber weil sich Amerika gerade inmitten der Weltwirtschaftskrise befand, bevorzugte die Planungskommission schliesslich – wenig überraschend – einen alternativen Plan für eine bescheidenere, funktionalere und vereinfachte Version der Brücke.

Der konkurrierende Entwurf war ohne grosses Aufsehen von Othmar Ammann, einem Schweizer Ingenieur, vorgelegt worden, der 1904 im Alter von 25 auf Anraten seines Professors in die USA ausgewandert war. Mit einem Abschluss der renommierten Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule Zürich (ETH) in der Tasche, fand er schnell seinen Weg im Brückenbau, bei dem ihm Lindenthal als Mentor zur Seite stand.

Während Lindenthals lange gärenden Pläne inzwischen grandiosen Charakter angenommen hatten, erkannte Ammann schnell, dass kleine Modifikationen an Materialien und Techniken grosse Wirkungen entfalten konnten. So kam er in seinen Berechnungen zu dem Schluss, dass 30.000 einzelne Stahldrähte, zu massiven meterdicken Kabeln gebündelt, ohne zusätzliche Verstärkungselemente auskommen würden und er seine Brücke so einen Kilometer über den Hudson spannen könnte.

Es war damals die längste Brücke der Welt. Mit ihren 1.067 Metern verdoppelte sie nahezu die bis dahin weltweit grösste Spannbreite einer Brücke, die nur wenige Jahre zuvor errichtet worden war. Während Lindenthal seinen extravaganten Plan für zukunftsorientiert hielt, konnte Ammann dies praktisch unter Beweis stellen, indem er zeigte, dass weniger mehr ist. Die Brücke, die am 24. Oktober 1931 vom damaligen Gouverneur von New York, Franklin Delano Roosevelt, eröffnet und von zwei Schülern auf Rollschuhen erstmalig befahren wurde, bestand nur aus einer Ebene und vier Fahrspuren. Aber sie wurde so geplant, dass Erweiterungen möglich waren, sodass in den nachfolgenden Jahrzehnten zunächst eine Erweiterung auf sechs Fahrspuren realisiert werden konnte und später eine zweiten Ebene (die Ammann geplant hatte) mit weiteren sechs Fahrspuren hinzukam. Dieses tragfähige Bauwerk war – und ist mit seinen zusätzlichen Ebenen noch immer – die meistbefahrene Fahrzeugbrücke der Welt.

Und durch eine Entscheidung, die nicht geplant war, sondern ihm durch die Umstände aufgezwungen wurde, hat Amman aus ästhetischer Sicht ein neues Kapitel in der modernen Architekturgeschichte aufgeschlagen. Eigentlich hatte der Schweizer Ingenieur vorgehabt, die Brückenpfeiler wie die berühmte Brooklyn Bridge mit Mauerwerk zu verkleiden. Aber Amman akzeptierte die aufgrund der Weltwirtschaftskrise auferlegten Budgetbeschneidungen und so wurde seine „nackte” Brücke ohne Mauerwerk fertiggestellt und freigegeben: unter Budget (weniger als ein Drittel der Kosten des ursprünglichen Plans seines Mentors Lindenthal) und sechs Monate früher als geplant. Auch alle späteren Konstruktionen Ammans blieben unverkleidet.

Kein Geringerer als der grosse Schweizer Architekt Le Corbusier bezeichnete die George-Washington-Brücke einmal als „die schönste Brücke der Welt”. Es ist eine Brücke, „die einen glücklich macht” und die erstmalig zeigte, dass „Stahl lächelt”.

Ammann hat im Laufe seines Berufslebens sechs der elf Brücken konstruiert und erbaut, die New York City mit dem Festland verbinden. Aber die George-Washington-Brücke war die erste, die der Welt zeigt, dass die Schweizer mit Sparsamkeit, Sinn für Schönheit und technischem Einfallsreichtum im Big Apple und in der Welt punkten können.

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