Nicht der Stuhl ist das Problem, sondern das Sitzen

Die Geschichte beginnt 1941 mit einem Liebesbrief. Ein angehender Architekt schreibt an eine Malerin, die er erst kurz zuvor an der Cranbrook Academy of Art in Michigan kennen gelernt hatte: „I am 34 (almost) years old, single (again) and broke – I love you very much and would like to marry you very very soon.” Der junge Mann heisst Charles Eames und sie ist Ray Kaiser.

Nach Charles’ Blitzscheidung von seiner ersten Frau sind beide schon wenige Monate später verheiratet und gehen gemeinsam nach Kalifornien. Während Charles in Hollywood für MGM Filmkulissen baut, collagiert Ray Titelbilder der angesagten Zeitschrift Arts & Architecture. Aber spannender ist, was die Eames in ihrer Wohnung anstellen. Im Gästeschlafzimmer haben sie eine Maschine aufgebaut, mit der sie Experimente aus Charles’ Universitätszeit fortsetzen und verformte und gebogene Schichtholzobjekte „backen”. Zufällig sieht ein Militärarzt die organisch geformten Holzobjekte und erzählt von einem Problem der Army: Die stählernen Beinschienen für Verwundete an den Fronten des zweiten Weltkriegs in Asien und Europa erweisen sich als untauglich, als zu starr und zu schwer. Und so gründet Charles eine Firma für Beinschienen. Gebogenes, federndes Schichtholz bewährt sich hier erstmals in der Massenfertigung – mehr als 150.000 Stützschienen kann er ans Militär verkaufen, es ist der erste kommerzielle Erfolg der Eames.

Als der Krieg endlich zu Ende ist, brauchen die heimkehrenden Soldaten neue Wohnungen und neue Möbel für ihre Familien. Die Eames entwerfen sie und feiern 1945 schon mit ihren ersten Stühlen grosse Erfolge. Sie schaffen ikonische Formen, die bis heute unsere Vorstellung von Möbeln nachhaltig prägen. Ihr Leitbild ist einfach: „We want to make the best for the most for the least.“ Gute Qualität soll für alle erschwinglich sein. Die Möbel sind stilvoll und vor allem zweckmässig: „Was gut funktioniert, ist besser als das, was gut aussieht, denn was gut funktioniert, hält“, sagt Ray.

1947 gründen sie ihr eigenes Studio, das Eames Office, im Los-Angeles-Küstenviertel Venice. „Wir betrachten uns selbst als Handwerker“, sagt Charles. Und so gleicht das Eames-Studio eher einem Forschungslabor als einem Designbüro. Die bis heute gültigen, etwas holprig klingenden Namen dieser Designklassiker, “DCW” (Dining Chair Wood) oder “LCW” (Lounge Chair Wood), sind in ihren Formen Ausdruck von Unbeschwertheit und Leichtigkeit, pure Zeichen von Optimismus und besserer Zukunft. Der berühmte Side Chair aus dem Jahr 1950, zunächst aus fiberglasverstärktem Polyesterharz und später aus Polypropylen gefertigt, steht bald in Restaurants, Schulen, Universitäten, Firmenbüros und Flughäfen im ganzen Land; Hersteller Herman Miller wird damit zur Weltfirma, ebenso wie ein Jahrzehnt später Vitra.

Das Design der Eames-Stühle, das so leicht daherkommt, ist das Ergebnis endloser Versuchsserien; zwar ist Charles bekennender Freund der spielerischen Fantasie, sein Motto lautet „I take my pleasure seriously“, aber sein Möbelprogramm geht er nüchtern wie ein Forscher an, nutzt Technologie und Materialien und dekliniert sie systematisch durch. Auf Schichtholz folgt Kunststoff (1950), danach Stahldraht (1951) und noch später Aluminium (1958). Immer sind es Sitzschalen mit fantasievollen Beinen, um aus wenigen Typen möglichst viele Varianten komponieren zu können.

Gleichzeitig wird das Eames-Universum immer mehr zur Bilderfabrik eines kalifornischen Lifestyles. Hauptschauplätze sind ihr Haus und ihr Studio, beide an der Pazifkküste, nur wenige Meilen voneinander entfernt. Das eigene Haus entsteht im Rahmen eines ehrgeizigen Case Study-Programms für das Wohnen von morgen, das an ein Gemälde von Mondrian erinnernde Meisterwerk ist eine schlichte, aber faszinierende Kiste aus Stahlträgern, Glas und Paneelen. Beschirmt von Eukalyptusbäumen enthält die Wohnbox alles, was Ray an Pittoreskem zusammengetragen hat: Kelims, Mobiles, afrikanische Kunst und Gemälde von Hans Hoffman, ihrem deutschen Lehrer.

Zweiter Schauplatz der Eames-Welt: ihr Studio, eine ehemalige Grossgarage im Venice, LA. In den späten 50er Jahren entwickelt es sich immer stärker zum Film- und Kreativlabor. Statt Möbeln entstehen jetzt immer häufiger Filme, Diaschauen, sehr poetische und sinnliche Lehrprogramme. Die Eames erweisen sich als Multimedia-Pioniere und PR Dienstleister. Grösster Auftraggeber wird IBM, aber auch die Regierung gehört zu den Kunden und bestellt museale Grossshows und Weltausstellungs-Pavillons. Es ist dieses Propagandahafte eines guten und schönen Amerikas, das ab den 70er Jahren manche Eames-Anhänger zu irritieren beginnt. Doch nie wieder – zumindest nicht bis zu Apple und dessen Chefdesigner Jonathan Ive – sollte amerikanisches Produktdesign so fortschrittlich sein und in aller Welt bewundert werden.

Ein Happy End also, auch für die Beziehung von Charles und Ray, trotz der Affären von Charles. Nur, dass Ray immer im Schatten von Charles bleibt, und das nicht nur in den 50er Jahren, in der Zeit der Mad Men, als selbst begabteste Frauen oft nur als Sekretärinnen Karriere machen. Noch 1977, als Ray und Charles Eames ihren eindrucksvollen Kurzflm Powers of Ten der Weltöffentlichkeit vorstellten, blieb Ray im Hintergrund. Der Film ist eine rasante virtuelle Kamerafahrt von einer Wiese in Chicago bis ins Universum und zurück. Die New York Times lobte dieses originelle „Werk der Eames Brothers“ überschwänglich. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten die Eames schon seit mehr als 35 Jahren erfolgreich zusammen. Aber Ray wurde in der Öffentlichkeit weiterhin meist nur als Begleiterscheinung von Charles wahrgenommen – manchmal sogar nur als kleiner Bruder.

Charles selbst sagte: „Alles, was ich kann, kann Ray besser“. Sicher ist: Keiner der beiden hätte ohne den anderen dieses Gesamtkunstwerk schaffen können. Wie auch immer sie es im Detail gemacht haben, die abstrakte Malerin und der ehrgeizige Architekt waren das, was sie auch sein wollten: das Designer-Traumpaar des 20. Jahrhunderts. Das erfolgreichste Eames-Design jedoch bleiben Charles und Ray Eames selbst, eine perfekte Symbiose – in gewissem Sinne über den Tod hinaus. Charles starb am 21. August 1978. Ray zehn Jahre später. Auf den Tag genau.

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Photo credits: © 2019 Eames Office, LLC (eamesoffice.com)

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